Kulturgeschichte

Kulturgeschichte
Kul|tur|ge|schich|te 〈f. 19; unz.〉 Geschichte der Kultur (eines Volkes od. der Menschheit) ● er hat eine \Kulturgeschichte der Römer geschrieben

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Kul|tur|ge|schich|te, die:
a) <o. Pl.> Ablauf u. Wandlung des gesellschaftlichen, geistigen, künstlerischen u. wirtschaftlichen Lebens:
die K. des Menschen;
b) <o. Pl.> Wissenschaft von der Kulturgeschichte (a);
c) Werk, [Lehr]buch über die Kulturgeschichte (a).

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Kulturgeschichte,
 
die Entwicklungen und Wandlungen im Bereich des geistig-kulturellen Lebens (als Ausschnitt geschichtlicher Prozesse) sowie deren Erforschung und Darstellung; Disziplin der Geschichtswissenschaft und Ansatz der Geschichtsschreibung, der das Handeln von Personen, Gesellschaften und Staaten im Zusammenhang der kulturellen Muster und Orientierungen sowie deren institutionellen Verfestigungen sieht, also im Zusammenhang der materiellen und geistigen Bedingungen sowie der Grundlagen des jeweiligen politischen oder wirtschaftlichen Verhaltens. Kulturgeschichte in diesem erweiterten Sinn hinterfragt die individuellen und gruppenspezifischen subjektiven Erfahrungen und Wahrnehmungen, Symbole, Rituale, individuellen Lebenswelten, Wertesysteme und Sinndeutungen.
 
Der Begriff entstand zunächst im Rahmen der politischen Philosophie des 18. Jahrhunderts und der an die Vorstellungen der Aufklärung anknüpfenden Versuche, die Entwicklung von Völkern und Staaten aus dem Zusammenwirken von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen, von philosophischen und technischen sowie nicht zuletzt von künstlerischen, religiösen und weltanschaulichen Faktoren zu bestimmen. Im Rückbezug auf G. B. Vico und J. G. Herder spielten dabei neben linearen, fortschrittsbezogenen (Voltaire, A. Ferguson, A. Condorcet, I. Kant) auch zyklische Modelle eine Rolle, sodass sich noch im 20. Jahrhundert die Bandbreite der Kulturgeschichte zwischen rückwärts gewandten beziehungsweise entlang dem Modell von Blüte, Aufstieg und Verfall entwickelten Vorstellungen (O. Spengler, A. Toynbee) und linearen, irreversiblen, auf Fortschritt und Differenzierung ausgehenden Modellen (A. Weber, D. Bell, K. Breysig) erstreckt. Einen Aufschwung nahm die Kulturgeschichte zunächst im Zusammenhang der Selbstvergewisserung der bürgerlichen Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wobei hier auch die Flucht vor den Entfremdungserscheinungen der Industriemoderne den Blick leitete (J. Burckhardt); sie führte bei K. Lamprecht zum (folgenlosen) Vorschlag, Kulturgeschichte zur Grundlegung jeder Art von historischer Forschung zu machen (»Die kulturhistorische Methode«, 1900). Im 20. Jahrhundert vollzog sich außerdem die Etablierung der Kulturanthropologie, -morphologie, -philosophie und -soziologie, die später auch der Kulturgeschichte wichtige Anregungen vermittelten.
 
Mit dem Niedergang nationalstaatlicher sowie kontinental bezogener Hegemonialansprüche (Eurozentrismus) nach 1945 verlor die Kulturgeschichte zunächst an Boden und wurde von den Fragestellungen der politischen Geschichtsschreibung, dann auch von den neuen Forschungsansätzen der Sozial-, Wirtschafts- und Strukturgeschichte (Schule der »Annales«; »Nouvelle Histoire«) verdrängt. In der Folge wuchsen der Kulturgeschichte jedoch gerade aus diesem Bereich wieder neue Impulse zu, da sich der verwandte Kulturbegriff unter dem Einfluss der Wirtschaftsgeschichte, der Soziologie, der Ethnologie und Psychohistorie grundlegend änderte (Kultur). Verbunden mit der - im Ertrag umstrittenen - poststrukturalistischen Diskursanalyse über gesellschaftliches Sprach- und Deutungsmuster (»Linguistic Turn«) sowie zunehmender Fortschritts- und Wissenschaftsskepsis beziehungsweise Zweifel am Leitbild der (westlichen) Modernisierung, führte die Abkehr vom zentristischen und deterministischen Geschichtsbild in der Geschichtsphilosophie zu einer neuen Betonung des Subjekts in der Deutung der Komplexität historischer Prozesse und Strukturen. Als wichtige (nicht unumstrittene) Anreger in diesem historischen Perspektivenwechsel wirkten u. a. P. Ariés, P. Bourdieu, N. Z. Davis, J. Derrida, N. Elias, C. Ginzburg, M. Foucault, E. Le Roy Ladurie, E. P. Thompson. Unter den Leitworten »Einfühlung« und »Dialogisierung« kam es in Opposition und Erweiterung der (herkömmlichen) Sozialgeschichte und »Historische Sozialwissenschaft« zu einer neuen »Konzeptualisierung« der Kulturgeschichte, vor deren Vereinseitigung und Überbetonung (»Kulturalismus«) inzwischen auch gewarnt wird. In Deutschland bewirkte die - verspätete - kulturhistorische Theoriedebatte, in der Geschichte stärker als »historische Kulturwissenschaft« begriffen wird, auch die Wiederaufnahme der im »Lamprecht-Streit« (1893-98) verloren gegangenen Traditionen (u. a. neuer Rückbezug auf M. Weber).
 
Die anthropologische Kulturgeschichte (»neue Kulturgeschichte« beziehungsweise »Kulturgeschichte im Kleinen«) führte seit Mitte der 1970er-Jahre zu einer Fülle von (auch mikrohistorischen »dichten« [C. Geertz]) Untersuchungen, die von der Alltagsgeschichte (Alltag) und der historischen Darstellung des privaten Lebens (u. a. historische Anthropologie) über die Geschichte der Sinnlichkeit, der Aggression sowie einzelner kulturgeschichtlicher Bereiche und kultureller Güter (z. B. Kulturgeschichte der Mode) bis zur Mentalitätsgeschichte (nach R. Chartier »Soziokulturgeschichte«) und zur historiographischen Bearbeitung der Kulturgeschichte selbst (S. Greenblatt) reichen.
 
 
A. Weber: K. als Kultursoziologie (Neuausg. 26.-30. Tsd. 1963);
 A. J. Toynbee: Der Gang der Weltgesch., 2 Bde. (a. d. Engl., Neuausg. 2-31979);
 
Ethnohistorie u. K., hg. v. K. R. Wernhart (Wien 1986);
 H. Glaser: Die K. der Bundesrepublik Dtl., 3 Bde. (Neuausg. 1990);
 D. Bell: Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus (a. d. Amerikan., 1991);
 E. H. Gombrich: Die Krise der K. (a. d. Engl., Neuausg. 1991);
 C. Parry: Menschen, Werke, Epochen. Eine Einf. in die dt. K. (1993);
 
Orte des Alltags. Miniaturen aus der europ. K., hg. v. H.-G. Haupt (1994);
 N. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde. (191995);
 
K. heute, hg. v. W. Hardtwig u. H.-U. Wehler (1996);
 C. VanDoren: Gesch. des Wissens (a. d. Amerikan., Basel 1996);
 R. u. D. Groh: Zur K. der Natur, Bd. 1: Weltbild u. Naturaneignung (21996);
 E. Friedell: K. der Neuzeit, 2 Bde. (Neuausg. 121997).
 
Weitere Literatur: Alltag
 

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Kul|tur|ge|schich|te, die: a) <o. Pl.> Ablauf u. Wandlung des gesellschaftlichen, geistigen, künstlerischen u. wirtschaftlichen Lebens: die K. des Menschen; b) <o. Pl.> Wissenschaft von der ↑Kulturgeschichte (a); c) Werk, [Lehr]buch über die ↑Kulturgeschichte (a).

Universal-Lexikon. 2012.

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